Montag, 29. Dezember 2014

Stärkung der Gemeinden Schlüssel zur Überwindung des Demokratiedefizits in Europa

© Peter Jósika

In Europa brennt der Hut. Um die Regionen Donezk und Lugansk bekriegen sich seit Monaten pro-russische und ukrainische Verbände. Tausende haben bereits ihr Leben verloren. Hundertausende leiden an den unmittelbaren Folgen dieses unnötigen Konfliktes. 

Beide Kriegsparteien verfolgen nur ein Ziel. Sie wollen diese gemischtsprachigen Gebiete in ihren politischen und wirtschaftlichen Einflussbereich zwängen, egal was es koste. Am Willen und den Bedürfnissen der betroffenen Bevölkerung sind sie nicht interessiert.

Die benachbarte Krim wurde in diesem Sinne bereits von Russland annektiert. Präsident Putin stützt sich auf ein Referendum, das in Eigenregie ohne internationale Kontrollen und vor allem ohne Beteiligung grosser Teile der Bevölkerung abgehalten wurde.

Doch auch in Westeuropa werden demokratische Grundrechte immer wieder mit Füssen getreten. Spanien verhinderte kürzlich ein vom Regionalparlament beschlossenes und von grossen Teilen der katalanischen Bevölkerung befürworteres Unabhängigkeitsreferendum. Frankreich enwarf am Reissbrett neue politische Regionen, die der betroffenen Bevölkerung nun per Dekret aufgezwungen werden. Proteste, insbesondere im Elsass und der Bretagne, werden ignoriert. Nun sickerten auch Pläne der italienischen Regierung für eine grossangelegte Gebietsreform durch, der autonome Provinzen wie Südtirol, Aosta, Trentino und Friaul zum Opfer fallen könnten. 

Die Politik in Europa verfolgt zweierlei Ziele. Einerseits versucht man mit der Brechstange kurzfristige administrative Einsparungen zu erzielen. Andererseits sollen regionale Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegungen geschwächt werden um den politischen Status Quo unter allen Umständen zu erhalten. Aber wer die Rechnung ohne den Wirt macht schiesst sich ins eigene Bein. Die Menschen lassen sich nicht mehr über den Tisch ziehen. Daher brodelt es heute in vielen Teilen Europas. 

Doch warum kann die Politik in Europa heute so bürgerfern und ignorant, ja geradezu überheblich, agieren? Das Grundproblem sind die zentralistisch nationalstaatlichen politischen Strukturen, die in ihrer heutigen Form ein Produkt des späten Neunzehnten und frühen Zwanzigsten Jahrhunderts sind. Sie können die Bedürfnisse unserer mobilen, globalisierten und stark demokratisierten Gesellschaft nicht mehr erfüllen. 

Um dieses Demokratiedefizit und die Endlosschleife wiederkehrender nationaler Konflikte in Europa zu überwinden, muss sich unsere Politik daher endlich den modernen gesellschaftlichen Anforderungen stellen. Das bedeutet einerseits mehr direkte Demokratie in den politischen Prozessen, andererseits die praktische Umsetzung des Prinzips der Subsidiarität, wie es im Vertrag von Lissabon bereits EU-weit festgelegt wurde. 

Die Gemeinde, als kleinste und bürgernaheste politische Einheit, sollte demnach EU-weit zum Ausgangspunkt des demokratischen Selbstbestimmungsrechtes werden. In diesem Sinne sollte es in erster Linie Sache der Bevölkerung jeder Gemeinde sein, über deren Zugehörigkeit zu einer Region oder einem Nationalstaat zu entscheiden. Es stellt sich nämlich nicht nur die Frage ob Katalonien zu Spanien oder Südtirol zu Italien gehören sollte, sondern vielmehr auch welche Gemeinden den politischen Gebietseinheiten Katalonien, Südtirol oder Tirol angehören wollen und welche Kompetenzen die einzelnen Gemeinden überhaupt an die Regionen, Provinzen, Nationalstaaten und die EU abgeben möchten.

Eine solche Form der kommunalen Selbstbestimmung besteht heute bereits in der Schweiz. Dort gilt die Gemeinde traditionell als Ausgangspunkt der politischen Selbstbestimmung. Die Kantone sind nichts anderes als politische Zusammenschlüsse freier Gemeinden, die Schweizerische Eidgenossenschaft wiederum eine Konföderation freier Kantone. Dieses von unten nach oben aufgebaute System löst die Frage der Zugehörigkeit zu einer übergeordneten politischen Einheit am basisdemokratischsten und daher im Sinne der betroffenen Bevölkerung. Es ist es auch für den Rest Europas die einzig wirksame Lösung unseren krisengeschüttelten Kontinent endlich auf eine demokratische Basis zu stellen und wiederkehrende nationalistische Auswüchse zu verhindern.

 

Peter Jósika ist ein in der Schweiz lebender österreichischer Autor, Historiker und Politikwissenschaftler. Er ist Autor des Buches "Ein Europa der Regionen- Was die Schweiz kann, kann auch Europa" und kann über die Webseite europaderregionen.com kontaktiert werden. 

Dienstag, 9. Dezember 2014

Between Federation and Disintegration: Can Europe re-define itself?

The EU is at a crossroads, and the question Europe as a whole needs to ask itself is how it should cope with the growing demand for more democracy as well as more local and regional power within an increasingly globalised world. In this exclusive article for OneEurope, Peter Josika asks whether the current political structures meet the needs of our time and the foreseeable future.

Read my full article:
http://one-europe.info/europe-between-federation-and-disintegration

Freitag, 28. November 2014

EU zwischen Föderation und Zerfall: Die Zeit ist reif Europa neu zu definieren

© Peter Jósika

EU zwischen Föderation und Zerfall: Die Zeit ist reif Europa neu zu definieren

Seit seinem Amtsantritt verlangt der britische Premier David Cameron eine umfangreiche EU-Reform. Obwohl Großbritannien bereits von verschiedenen Ausnahmeregelungen profitiert, fordert er eine deutlich abgespeckte EU. Cameron will zwar den gemeinsamen Markt erhalten, aber politische und regulatorische Kompetenzen sowie die Frage der Personenfreizügigkeit weitgehend an die Nationalstaaten zurückgeben. Er weiß einerseits, dass sein Land den europäischen Binnenmarkt braucht, muss aber eine durch die Medien und die UK Independence Party angeheizte EU-skeptische Stimmung bedienen.

Neben Großbritannien wird auch die Schweiz heute als ein Land mit Sonderwünschen wahrgenommen. Zwar ist die Eidgenossenschaft durch eine Vielzahl bilateraler Verträge politisch und wirtschaftlich eng mit der EU verbunden. Eine EU-Mitgliedschaft fand aber bisher aus demokratie- und wirtschaftspolitischen Gründen unzureichende Unterstützung. Im Februar sprach sich zudem eine knappe Mehrheit der Schweizer, entgegen der Empfehlungen des Bundes-, National- und Ständerates, für eine Kontingentierung der Einwanderung aus der EU aus. Nun steht die Schweizer Politik vor dem schwierigen Balanceakt den Volkswillen in Verhandlungen mit der EU umzusetzen ohne die bestehenden für die einheimische Wirtschaft lebenswichtigen bilateralen Verträge zu gefährden. 

Die EU-Kommission und führende Politiker der EU-Kernstaaten stehen den britischen und schweizerischen Sonderwünschen kritisch gegenüber. Sie beharren darauf, dass die Personenfreizügigkeit und der erreichte Grad der europäischen Integration unantastbar sind. Dementsprechend verlangen viele, dass die EU beide Staaten kompromisslos vor die Wahl stellt: Entweder ihr seid dabei und akzeptiert die EU wie sie heute ist, oder ihr bleibt draußen mit allen Konsequenzen. So logisch diese Einschätzung für viele auch klingen mag, wir müssen uns vor radikalen Lösungsansätzen in acht nehmen. 

In Wahrheit geht es nämlich schon lange nicht mehr nur darum wer "drinnen" oder "draußen" ist. Die EU, der EWR, Schengen/Dublin und die Eurozone sind heute bereits vier in vielerlei Hinsicht voneinader unabhängige pan-europäische Institutionen, denen unterschiedliche Staaten angehören. Eine simplistische Aufteilung Europas in ein pro- und anti-Europa Lager ist daher schon längst überholt. Die Realität ist um einiges komplexer und vielschichtiger. 

Einserseits gibt es in Deutschland und Frankreich wachsende Kritik an EU-Regularien und der Personenfreizügigkeit. Andererseits wird auf regionaler Ebene, sowohl in den EU-Kernländern als auch in den als EU-skeptisch wahrgenommenen Staaten, der Ruf nach mehr Europa immer lauter. 

So regt sich in Schottland, Wales, Cornwall und Yorkshire zunehmend Widerstand gegen die antieuropäische Politik Londons. Viele fühlen sich durch den britischen Zentralismus, der sich traditionell an den Bedürfnissen Südostenglands orientiert, nicht mehr ausreichend vertreten. Für sie steht die Vision eines vereinten föderalen Europas für weniger London und mehr lokale Eigenverantwortung.

Ähnlich ist die Situation in vielen anderen Regionen Europas. Heute brodelt es in Katalonien, dem Baskenland, Galicien, der Bretagne, Savoyen, dem Elsass, Südtirol, Venetien, Friaul, Triest, Istrien, Dalmatien, Mähren, Schlesien, Siebenbürgen, dem Banat usw. In diesen Gebieten wollen die Menschen mehr Selbstbestimmung und sehen daher in einem vereinten föderalen Europa die große Chance sich von den bestehenden zentralistisch-nationalstaatlichen Zwängen zu befreien. Ihr Streben nach Autonomie oder gar Sezession ist meist in einem pro-europäischen Kontext zu verstehen. 

Selbst in der föderalen Schweiz ist auf regionaler Ebene die Unzufriedenheit über den Volksentscheid für eine Kontingentierung der Einwanderung aus den EU-Staaten groß. In zwei der wichtigsten Wirtschaftsstandorten des Landes, Basel und Genf, entschied sich eine klare Mehrheit für die Beibehaltung der Personenfreizügigkeit mit der EU. Dort herrscht nun grosser Unmut über ein de facto "Diktat aus der Innerschweiz". Basel und Genf sehen ihre Konkurrenzfähigkeit ernsthaft gefährdet und fragen sich zunehmend ob gesamtschweizerische Abstimmungen zu solchen Themen zielführend sind. 

Für Europa und seine Staaten stellt sich daher die grundsätzliche Frage wie man in unserer zunehmend globalisierten aber auch demokratisierten Welt mit den unterschiedlichen regionalen Bedürfnissen umgehen soll und ob unsere heutigen politischen Institutionen überhaupt noch zeitgemäß sind. 

Eines ist klar: Wir können es uns nicht leisten das Friedensprojekt Europa aufzugeben. Nicht nur unsere Vergangenheit, sondern auch die aktuellen Krisen am Rande unseres Kontinents, wo Regionen von einer Tragödie in die andere schlittern, verbieten uns das. Andererseits müssen wir uns davor hüten über die Köpfe der Menschen hinweg einen Einheitsbrei zu schaffen, sowohl auf EU Ebene als auch innerhalb der bestehenden Nationalstaaten. 

Daher ist ein vielschichtig integriertes Europa der Regionen wohl die einzig zielführende Lösung. In einem wahrlich demokratischen und bedürfnisgerecht aufgebauen Europa der Bürger darf weder die EU den Briten und Schweizern starre Strukturen aufoktroyieren, noch dürfen die Menschen in Schottland, Wales, Yorkshire, Cornwall, Basel, Genf, Südtirol oder dem Elsass vom Willen der Südostengländer, Innerschweizer, Römer oder Pariser abhängig gemacht werden. 

Im Europa von Morgen sollten daher   Gemeinden und Regionen, als kleinste und bürgernaheste politische Einheiten, eine viel bedeutendere Rolle spielen als die bestehenden Nationalstaaten. Die EU müsste dahingehend reformiert werden, dass sie einerseits flexiblere Beitritts- und Austrittskriterien für ihre Vertragswerke und Institutionen ermöglicht, und andererseits die Kompetenzen der Gemeinden und Regionen im Sinne des im Vertrag von Lissabon definierten Subsidiaritätsprinzips europaweit 
aufwertet. 

Europa ist so komplex geworden, dass es sich neu erfinden muss. Das erfordert grundlegende Reformen und vor allem eine Abkehr von den nicht mehr zeitgemäßen nationalstaatlichen Strukturen. 

Peter Jósika ist ein in der Schweiz lebender österreichischer Historiker und Politikwissenschaftler. Er ist Autor des Buches "Ein Europa der Regionen - Was die Schweiz kann, kann auch Europa ", und kann über die Webseite europaderregionen.com kontaktiert werden.

 

 

  

Freitag, 14. November 2014

Gebietsreformen in Deutschland und Frankreich: Nie über die Köpfe der Menschen hinweg!

© Peter Jósika
Gebietsreformen in Deutschland und Frankreich: Nie über die Köpfe der Menschen hinweg!
 
Die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer bringt im Zusammenhang mit den Verhandlungen zur Reform des bundesdeutschen Finanzlastenausgleichs die Idee einer Zusammenlegung mehrerer Bundesländer ins Spiel. Aus den heute sechzehn Bundesländern könnten, so Kramp-Karrenbauer, dann konkret sechs bis acht "Grossländer" entstehen. 
 
Kramp-Karrenbauer schielt wohl, was ihre Fusionsideen betrifft, mit einem Auge auf das benachbarte Frankreich. Dort versucht Präsident Hollande bereits seit Monaten das Parlament für seine gigantische "Réforme Territoriale" zu begeistern. So sollen, zum Beispiel, die historisch gewachsenen und von sehr unterschiedlichen Bedürfnissen geprägten Regionen Elsass, Lothringen und Champagne per Pariser Dekret zu einer neuen Großregion zusammengelegt werden. Trotz grosser Proteste und mehrmaliger Abstimmungsniederlagen im Senat hält Hollande eisern an seinen Plänen fest. Regionale Volksabstimmungen lehnt er ab. Im zentralistischen Frankreich ist die Meinung der unmittellbar betroffenen Bevölkerung für viele Politikerinnen und Politiker ohnehin immer noch nebensächlich. 
 
Jene, die diese Gebietszusammenlegungen fordern, verfolgen meist zweierlei Ziele. Einerseits wollen sie durch die Abschaffung einiger Parlamente und ihrer Institutionen Kosten senken und finanzielle Altlasten tilgen. Andererseits versuchen sie die politischen Mehrheitverhältnisse in ihrem Sinne zu optimieren, oder gar, wie insbesondere der Fall in Frankreich, unliebsame regionale Abspaltungs- und Autonomiebewegungen aus dem Weg zu räumen.
 
Diese Ziele zeugen allerdings oft von grosser politischer Kurzsichtigkeit. Erstens setzt eine funktionierende auf Konsens aufgebaute Demokratie voraus, dass sich die Bevölkerung mit ihren Institutionen identifizieren kann. Mehrheitverhältnisse durch von oben aufoktroyierte Zusammenlegungen auf den Kopf zu stellen, oder gar Selbstbestimmungs-  und Autonomiebestrebungen zu unterdrücken, ist daher zutiefst kontraproduktiv. Zweitens muss eine moderne politische Institution bürger- und wirtschaftsnah agieren, um flexibel und bedürfnisgerecht auf die sehr unterschiedlichen regionalen Anforderungen eingehen zu können. Das ist in überdimensionierten Gebietseinheiten oft nicht ausreichend möglich, was nicht zuletzt der rege Trend zur Bildung sogenannter Metropol- und Europaregionen in vielen Grossflächenbundesländern zeigt. 
Es besteht daher die Gefahr, dass kurzfristige fusionsbedingte administrative Einsparungen wieder schnell durch einen zentralistischen wachstumshemmenden Einheitsbrei aufgefressen werden. Das oft gebrauchte Argument, dass nur grosse politische Einheiten überlebensfähig seien, ist ein Märchen. Die Kantone der Schweiz beweisen ja sehr eindrücklich genau das Gegenteil. Verfügten das Saarland und das Elsass über mehr Kompetenzen und Steuerautonomie, könnten sie sogar durchaus von ihrer Kleinheit profitieren. 

Statt Großregionen am Reißbrett zu entwerfen, sollte die Politik in Deutschland und Frankreich daher viel eher über mehr direkte Demokratie und eine Stärkung regionaler und lokaler Kompetenzen nachdenken. In manchen Fällen ist eine Zusammenlegung von Gemeinden, Kreisen, Regionen oder Bundesländern vielleicht sinnvoll, in anderen Fällen wäre wiederum eine Aufteilung oder Abspaltung in kleinere Einheiten die effektivere Lösung. Solche Entscheidungen sollten allerdings prinzipiell weder in Berlin oder Paris noch in den jeweiligen Landeshauptstädten fallen, sondern auf lokaler Ebene, einzig und allein durch die betroffene Bevölkerung getroffen werden.

Mittwoch, 22. Oktober 2014

Ohne Selbstbestimmung keine Demokratie

© Peter Jósika

Ohne Selbstbestimmung keine Demokratie

von Peter Josika

Der Begriff "Selbstbestimmung" hat sich in den letzten Wochen zum Buhwort des politischen Establishments entwickelt. Die europäische Politik macht unmissverständlich klar, dass sie den Status Quo in Europa unter allen Umständen bewahren will. Neue Staaten oder veränderte Grenzen sind unerwünscht. Jeglicher Separatismus soll im Keim erstickt werden, im Notfall auch über die Köpfe der betroffenen Menschen hinweg.

Schon während des Wahlkampfs zum schottischen Referendum mischten sich einige prominente nicht-schottische Politiker in die Propagandaschlacht für den Verbleib des Landes im Vereinigten Königreich ein. Das beeinflusste fraglos das Ergebnis und verhalf den Gegnern der Unabhängigkeit zu einer Mehrheit.

Die Entscheidung des Spanischen Verfassungsgerichtes, das für November geplante katalanische Unabhängigkeitsreferendum zu verbieten, nimmt die europäische Politik nun mit Genugtuung auf. Proteste, dass damit das demokratische Grundrecht der betroffenen Bevölkerung hintergangen wird, gibt es kaum.

Doch warum handelt Europas Politik so?
Machtpolitik und Nationalismus spielen eine entscheidende Rolle. An der Oberfläche argumentieren viele politische Entscheidungsträger aber damit, dass erfolgreiche Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen Europa weiter "zerstückeln" und damit den europäischen Integrationsprozess erschweren würden. Europa werde, so der Tenor, noch unregierbarer und nationalistischer als es heute schon ist. Einige sprechen sogar von der Gefahr einer "Balkanisierung" Europas.

In Wahrheit sind die separatistischen Kräfte meist weitaus pro-europäischer als die Nationalstaaten selbst und zudem oftmals eher regionalistisch als nationalistisch gesinnt. Sie zu unterdrücken oder unter den Teppich zu kehren wäre ein großer Fehler, der den europäischen Integrationsprozess sowie den Frieden und Wohlstand in Europa beträchtlich gefährden könnte. Europas Politiker müssen daher endlich beginnen, eines zu begreifen: Europäische Integration, Frieden und Wohlstand hängen untrennbar mit demokratischer Mitbestimmung zusammen. Wer Demokratie untergräbt, schießt sich langfristig ins eigene Knie.

Der Ruf nach mehr Selbstbestimmung ist daher keinesfalls als soziale Fehlentwicklung, sondern vielmehr als Konsequenz einer demokratisierten Gesellschaft zu verstehen. Neben der persönlichen Selbstbestimmung mündiger Bürgerinnen und Bürger, die über ihr Schicksal frei entscheiden und verfügen können, ist auch die kollektive Selbstbestimmung ein wichtiger Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft. Sie ermöglicht es den Menschen, ihre Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, wie einer Region oder einem Staat, frei zu wählen.

Das im Vertrag von Lissabon erstmals EU-weit festgesetzte Subsidiaritätsprinzip beruht auf dem Grundsatz der lokalen und regionalen Selbstbestimmung. Praktiziert wird es in diesem Sinne heute allerdings nur im Nicht-EU-Mitgliedsstaat Schweiz, wo nicht nur Regionen, sondern vor allem auch Gemeinden frei über ihre Zugehörigkeit zu einer größeren politischen Entität entscheiden können.

Erst kürzlich stimmte zum Beispiel der französischsprachige Berner Jura mehrheitlich für den Verbleib beim Kanton Bern und gegen einen Wechsel zum Kanton Jura. Eine bernerjurassische Gemeinde, Moutier, votierte allerdings für einen Kantonswechsel. Nun kann Moutier in einem zweiten Schritt den Prozess der Angliederung an den Kanton Jura einleiten. Die Tatsache, dass alle benachbarten Gemeinden beim Kanton Bern verbleiben, und Moutier dadurch zu einer Insel des Kantons Jura mitten im Gebiet des Kantons Bern werden könnte, spielt dabei keine Rolle.

In der Schweiz wird also das gelebt, was eigentlich in jeder Demokratie selbstverständlich sein sollte. Staaten, Grenzen und Regionen sind in erster Linie für die betroffenen Menschen da, nicht umgekehrt. Und die Gemeinde als kleinste politische und bürgernaheste Institution sollte daher auch der Ausgangspunkt der kollektiven Selbstbestimmung sein.

Fast 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Zeit reif für gelebte Demokratie in Europa. Dementsprechend sollte lokale und regionale Selbstbestimmung nicht weiter tabuisiert werden. Wenn ein paar Gemeinden oder Regionen in der EU ihre regionale oder nationalstaatliche Zugehörigkeit ändern wollen, darf dies in einem offenen und grenzenlosen Europa kein Problem mehr darstellen. Die Politik in Europa sollte diesbezüglich vielmehr klare Voraussetzungen schaffen.

Dabei geht es aber nicht nur um demokratische Mitbestimmung, sondern auch um eine Stärkung lokaler und regionaler Strukturen innerhalb der bestehenden Staaten. Diese ist Voraussetzung für den Aufbau bedürfnisgerechterer wirtschaftlicher Bedingungen sowie der schrittweisen Überwindung des trennenden ethnischen Nationalismus. Und beides ist wiederum unabdingbar, wenn wir es ernst meinen mit einer Fortsetzung der europäischen Integration.
Der Weg zu einem vereinten Europa führt nämlich nicht über ethnische Nationalstaaten und ihren von Vorurteilen und politischem Zentralismus geprägten Strukturen, sondern über jene Einheiten, die den Menschen am nächsten sind, die Gemeinden und Regionen, in denen wir leben.


Informationen zu Peter Josika


Peter Jósika ist ein in der Schweiz lebender österreichischer Historiker, Politikwissenschaftler und Föderalismusexperte 

Veröffentlicht im Föderalismusblog am 21.10.2014

http://www.foederalismus.at/blog/ohne-selbstbestimmung-keine-demokratie_22.php



Sonntag, 14. September 2014

From Scotland to Eastern Ukraine: Calls for self determination divide Europe


On Sept. 18 the Scottish people will choose between remaining part of the United Kingdom or becoming an independent country. Although the outcome is unlikely to have any great economic implications for the European Union, the referendum sparks hopes and fears across the continent. Irrespective of the result of the Scottish vote, the calls for regional autonomy and independence across Europe simply cannot be ignored.


Referendums on the complete secession of a territory from a state have been exceptional in European history. They mostly occurred after Wars or other political upheavals and were always highly controversial as they questioned one of the foundations of the modern nation state- the indivisibility of its territory.

International law recognizes two in many ways contradictory principles. On the one hand there is the right to self determination, on the other hand the principle of territorial integrity. It's a matter of great controversy which of the two has precedence over the other and under which circumstances.
Whenever disputes over the status of a territory arose in recent history, the big powers supported “self determination” or defended “territorial integrity” selectively depending on their geo-political interests. While Russia justifies the “re-attachment” of Crimea and the support of “pro-independence forces” in eastern Ukraine with the right to regional “self determination,” the West is defending Ukraine’s “territorial integrity.”

In the case of the Kosovo, on the other hand, the two powers follow completely opposite policies. While the West recognized Kosovo's split from Serbia after its 1991 referendum, Russia rejects Kosovan independence on the basis of Serbian “territorial integrity.”
In other words: Due to the perceived strategic interests of major powers and power blocks, the will of the people in regional Europe were consistently ignored. Therefore, it does not come as a surprise that Europe's current states and their boundaries have little to do with democratic evolvement and much more with decades or even centuries of nationalist power politics.
Many regions were occupied and forced into states against the will of the majority. Most of Europe's nation states implemented strict centralist political regimes destroying historically grown regional and local structures while assimilating or often even expelling all or parts of the autochthonous regional populations.

These policies led to inner and outer conflicts culminating in the rise of extremist movements. Both World Wars, the Cold War and the Balkan Wars were largely the product of ethnic nationalist power politics in Europe and its consequences.

The current independence and autonomy movements are the logical consequence of historic failings in combination with outdated centralist-nationalist structures and a growing demand for more political participation on a regional and local level.

Besides Scotland, there are dozens of other regions in Europe seeking more autonomy or even independence. Catalonia, the Basque Country, Galicia, Wales, Northern Ireland, Yorkshire, Cornwall, Brittany, Alsace, Corsica, Bavaria, South Tyrol, Friuli, Veneto, Lombardy, Sardinia, Sicily, Dalmatia, Istria, Vojvodina, the Banat, Transylvania, the Szeklerland, modern day Southern Slovakia, Silesia and Moravia are only some examples.

Until recently any discussion about secession, independence, a change of state or extended autonomy were considered a taboo issue and in some instances even a crime. In an increasingly globalized, open and multicultural environment this has changed.

However, a society marked by decades of centralist controlled “nation state building” is split on the virtues of a “regionalisation” of power. Accordingly, the upcoming Scottish referendum is viewed as a possible precedence for other regions in Europe and therefore watched with a mixture of hope and fear.

But how should Europe react to the rise in calls for independence or more regional autonomy? It would be undemocratic and counterproductive to simply ignore or even disallow them. This would only acerbate inner and outer conflicts while endangering Europe's security as well as it's ongoing peace and integration process.

Instead, a EU-wide decentralization process should be put on the agenda. Decentralization plans already exist in most European countries anyway. As part of the “No-Campaign” against Scottish independence, the UK government is promising more devolution in Britain.
France is currently working on a controversial “réforme territoriale” that should eventually provide the regions with similar levels of power to the German Bundesländer. In Germany and Austria extensive reforms giving communes and regions more tax autonomy and more clearly defined competencies are being debated. Other extensive decentralization plans exist in Italy, Poland and Spain.

A joint European devolution process based on the successful Swiss model and the principle of subsidiarity, as defined in the Treaty of Lisbon, would help eradicte much of the undemocratic and growth inhibiting centralist structures across Europe in one single step. It would create the conditions for more need based political and economic structures on a local and regional level while also clearly defining the competencies of EU, national, regional and local government eliminating costly duplications. Taking such a comprehensive step across the Continent won't be easy, but it is indispensable to pull Europe out of crisis, politically and economically.


Peter Jósika is a Swiss based author, historian and political scientist. He can be reached on facebook.com/peter.josika and twitter.com/PeterJosika. More information at www.europaderregionen.com.



Samstag, 13. September 2014

Föderalismus als Antwort auf Separatismus

© Peter Jósika

Föderalismus als Antwort auf Separatismus

Kommentar der anderen | PETER JÓSIKA

Die Entscheidung in Schottland schürt Ängste und Hoffnungen in ganz Europa. Drängend stellt sich die Frage, wie Europa auf den Drang vieler Regionen nach mehr Autonomie oder Unabhängigkeit reagieren soll

Abstimmungen über die komplette Abspaltung eines Gebietes von einem Staat waren bislang Sonderfälle. Sie fanden meist nach Kriegen oder anderen großen politischen Umwälzungen statt. Zudem sind sie umstritten, weil sie ein Grundkonzept des modernen Nationalstaates infrage stellen - die "Unteilbarkeit" des Staatsgebietes.

Das Völkerrecht kennt zwei sich in vielerlei Hinsicht widersprechende Grundsätze. Einerseits besteht das Recht auf Selbstbestimmung eines Volkes, andererseits die Unumstößlichkeit der "territorialen Integrität" . Welches Recht Präzedenz genießt und wie sowie unter welchen Umständen es anzuwenden ist, bleibt umstritten.

Wenn es um den Status umstrittener Gebiete geht, unterstützen Staaten und Machtblöcke ihren geopolitischen Interessen entsprechend selektiv entweder das Selbstbestimmungsrecht oder das Prinzip der "territorialen Integrität". Während Russland die Einverleibung der Krim und die Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegungen in Donezk und Luhansk mit dem Recht auf Selbstbestimmung der dortigen russischen Bevölkerungsmehrheit verteidigt, pocht der Westen dabei auf die Unantastbarkeit der territorialen Integrität der Ukraine.

Andererseits stützt sich der Westen, was die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo betrifft, auf das Selbstbestimmungsrecht der albanischen Bevölkerungsmehrheit, das Russland wiederum mit Verweis auf die territoriale Integrität Serbiens bis heute ablehnt.

Strategische Interessen wurden und werden dem Willen der Bevölkerung also meist vorgezogen. Es überrascht daher nicht, dass Europas heutige Staaten und Grenzen in erster Linie durch nationalstaatliche Machtpolitik entstanden sind und mit regionaler Selbstbestimmung so gut wie gar nichts zu tun haben. Viele Regionen wurden vielmehr nach Kriegen und Eroberungen durch aufgezwungene Verträge gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit in fremde Nationalstaaten gezwungen.

Diese versuchten regionale Strukturen zu schwächen und Teile der Bevölkerung auszugrenzen oder mit Gewalt zu assimilieren. Das Ergebnis dieser Politik waren innere und äußere Konflikte sowie der Aufstieg extremistischer Bewegungen. Beide Weltkriege, der Kalte Krieg, die Balkankriege und der heutige Bürgerkrieg in der Ostukraine waren und sind direkte Folge verfehlter ethnisch-nationalstaatlicher Machtpolitik.

Die gegenwärtigen Unabhängigkeits- und Autonomiebewegungen in Europa sind die logische Konsequenz einer Mischung aus unverarbeiteten historischen Animositäten, nicht mehr zeitgemäßen zentralistisch-nationalstaatlichen Strukturen sowie einem wachsenden Bedürfnis nach mehr politischer Mitbestimmung auf regionaler und lokaler Ebene.

Lauterer Ruf nach Autonomie

Nicht nur aus Schottland, sondern auch aus vielen anderen Regionen Europas wird daher der Ruf nach mehr Autonomie oder gar Unabhängigkeit immer lauter. Katalonien, das Baskenland, Galicien, Wales, Nordirland, Yorkshire, Cornwall, die Bretagne, das Elsass, Korsika, Bayern, Südtirol, Friaul, Venezien, die Lombardei, Sardinien, Sizilien, Dalmatien, Istrien, die Vojvodina, das Banat, Siebenbürgen, das Szeklerland, die heutige Südslowakei, Schlesien und Mähren sind nur einige Beispiele.

Für alle diese Regionen galt bisher die Unumstößlichkeit der "territorialen Integrität" als oberstes Gebot. Im weltoffenen zusammenwachsenden Europa beginnt dieser Grundsatz aber langsam zu bröckeln. Bisherige Tabuthemen, wie Abspaltung, Unabhängigkeit, Autonomie oder Staatenwechsel, werden nun offen diskutiert, spalten aber gleichzeitig die Gesellschaft. Dementsprechend wird das friedlich zustande gekommene schottische Referendum als möglicher Präzedenzfall für andere Regionen in Europa gehandelt und mit einer Mischung aus Hoffnung und Angst beobachtet.

Wie sollen die EU und ihre Staaten auf die Unabhängigkeits- und Autonomiebewegungen reagieren? Sie zu ignorieren oder gar zu verbieten wäre undemokratisch und kontraproduktiv. Es würde Konflikte schüren und damit die innere Sicherheit sowie den europäischen Friedens- und Integrationsprozess gefährden.

Stattdessen sollte ein EU-weiter Dezentralisierungsprozess überlegt werden. Dezentralisierungspläne bestehen heute ohnehin bereits in fast allen europäischen Staaten. Die britische Regierung verspricht im Rahmen ihrer Nein-Kampagne im schottischen Unabhängigkeitswahlkampf eine Ausweitung des 1998 von Tony Blair begonnenen sogenannten "Devolutionsprozesses". Frankreich arbeitet an einer umstrittenen Territorialreform, die in einem zweiten Schritt die Aufwertung der regionalen Kompetenzen nach dem Vorbild der deutschen Bundesländer vorsieht. In Deutschland und Österreich werden Föderalismusreformen diskutiert, die Bundesländern und Gemeinden klarere Kompetenzen und mehr Steuerautonomie gewähren sollen. Auch in Italien, Spanien und Polen liegen Pläne für weitreichende Dezentralisierungsmaßnahmen vor.

Schweiz als EU-Vorbild

Eine EU-weite Föderalismusreform, die sich am erfolgreichen Modell der Schweiz orientiert und zugleich die einheitliche Umsetzung des im Vertrag von Lissabon definierten Subsidiaritätsprinzips festlegt, wäre daher ein logischer nächster Schritt im europäischen Integrations- und Demokratisierungsprozess. Dadurch könnten nicht nur bedürfnisgerechtere politische und wirtschaftliche Strukturen aufgebaut werden, sondern auch die Kompetenzen der EU, der Nationalstaaten, der Regionen und der Kommunen effektiver definiert werden. Zudem wäre eine gesamteuropäische Föderalismusreform ein Meilenstein auf dem Weg zu einem Europa der Regionen, in dem ethnisch-nationaler Zentralismus schrittweise regionalen Anforderungen weicht und Selbstbestimmung nicht selektiv, sondern flächendeckend gelebt wird. (Peter Jósika, DER STANDARD, 13.9.2014)

Peter Jósika ist ein in der Schweiz lebender österreichischer Historiker, Politikwissenschafter und Föderalismusexperte. Er ist Autor des Buches "Ein Europa der Regionen - Was die Schweiz kann, kann auch Europa".

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http://mobil.derstandard.at/2000005520112/Foederalismus-als-Antwort-auf-Separatismus

Donnerstag, 28. August 2014

Donnerstag, 24. Juli 2014

Réforme territoriale: Von Paris diktierte Dezentralisierung

© Peter Jósika

 25. Juli 2014, 14:10                            

Gastkommentar zu Hollandes Vorhaben

Von Paris diktierte Dezentralisierung



               
 

© NZZ (Bild: imago stock&people)





Seit Jahrzehnten beschäftigt das Thema Dezentralisierung die französische Politik. Fachleute und grosse Teile der Wirtschaft verlangen eine Stärkung der Regionen und Kommunen sowie eine Abkehr vom unflexiblen Pariser Zentralismus. Bürgernahe und bedürfnisgerechte politische Strukturen sollen das Land basisdemokratischer, wachstumsorientierter und somit auch konkurrenzfähiger machen.

Im Präsidentschaftswahlkampf 2012 hatte François Hollande versprochen, die 1982 vom damaligen Präsidenten Mitterrand eingeleitete schrittweise Dezentralisierung des Landes zu vollenden. Nun macht er den Plan aber von einer gigantischen Gebietsreform abhängig. Seine Forderung: Bevor die Regionen mehr Macht erhalten, müssen sie zu grösseren, «europagerechten» politischen Einheiten «nach deutschem Vorbild» zusammengelegt werden. Aus den heutigen 22 Regionen sollen 13 zum Teil willkürlich zusammengewürfelte neue Grossregionen entstehen. Einerseits möchte Hollande Gebiete mit so unterschiedlichen Traditionen und Bedürfnissen wie das Elsass, Lothringen und die Champagne zwangsverheiraten, andererseits die Aufteilung historisch zusammengehörender Gebiete wie der Bretagne, die in mehrere Regionen geteilt ist, beibehalten.

Der französische Präsident beginnt seine Dezentralisierungsreformen also nach alter pariserisch-zentralistischer Manier. Die historisch gewachsenen Regionen werden ohne Mitbestimmung der betroffenen Bevölkerung in neu verordnete Superregionen hineingepfercht. Worum geht es also Hollande wirklich, wenn er die Grundprinzipien eines modernen dezentralisierten Staates, Selbstbestimmung und Subsidiarität, so unverfroren umgeht? In erster Linie um kurzfristige Einsparungen in der Verwaltung.

Das oft bemühte Argument, dass Riesenregionen Voraussetzung für funktionierenden Föderalismus wären, entbehrt nämlich jeder Grundlage. Die Kantone der Schweiz und die Bundesländer Österreichs sind im Schnitt deutlich kleiner als die gegenwärtigen Regionen Frankreichs. Sie stehen den deutschen Bundesländern, was ihre Lebens- und Leistungsfähigkeit betrifft, aber um nichts nach. Gerade in Deutschland besteht aber bereits seit Jahren ein wachsendes Bedürfnis nach kleineren politischen Einheiten. Das drückt sich zum Beispiel in der Bildung sogenannter Metropolregionen und dem Ruf nach einer Aufwertung der Landkreise aus. Die Überdimensionierung der deutschen Bundesländer, ein eher unfreiwilliges Produkt der deutschen Nachkriegsgeschichte, entpuppt sich zunehmend als Manko.

Daher gilt sowohl für Frankreich als auch für andere zentralistische Staaten: Deutschlands Föderalismus kopieren? Ja, teilweise. Neue Superregionen mit deutschen Grössenverhältnissen aus dem Hut zaubern? Lieber nicht. Überschaubare historisch gewachsene Regionen eignen sich viel besser für den Aufbau bedürfnisgerechter, eigenverantwortlicher Strukturen.

Der Ruf nach mehr regionaler Eigenverantwortung ist heute nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa zu hören. Daher wäre es sinnvoll, die von vielen Seiten geforderte Reform der EU-Zuständigkeiten zu einer echten europaweiten Föderalismusreform auszuweiten. Das Ziel sollte eine klare Kompetenzaufteilung zwischen der EU, den Nationalstaaten, den Regionen und den Kommunen sein, die dem im Vertrag von Lissabon festgelegten Subsidiaritätsprinzip Rechnung trägt. Nur so könnten institutionelle Doppelspurigkeiten überwunden sowie der bürgerferne und wirtschaftshemmende zentralistische Filz endlich europaweit eingedämmt werden.

Peter Jósika ist ein in der Schweiz lebender österreichischer Historiker, Politikwissenschafter und Föderalismusexperte. Im August erscheint sein Buch «Ein Europa der Regionen – Was die Schweiz kann, kann auch Europa».

Dienstag, 27. Mai 2014

EU und Nationalstaaten brauchen eine gemeinsame Föderalismusreform

© Peter Josika
Das Ergebnis der EU-Wahlen verdeutlicht, dass der europäische Integrationsprozess in seiner aktuellen Form in einer Sackgasse gelandet ist. Der Traum von den "Vereinigten (National-)Staaten von Europa" entpuppt sich zunehmend als unrealistische Seifenblase. Viele Europäer stehen einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration zurzeit negativ gegenüber. Daran wird sich ohne institutionelle Reformen, die Europas zentralistische und ethnisch-nationale politische Strukturen abschwächen, auch nichts ändern. 
 
Die pro-europäischen Kräfte müssen daher umdenken. Die während des EU-Wahlkampfs vielzitierte Idee eines "Europas der Regionen" darf nicht zu einem inhaltlosem Wahlkampfslogan verkommen. Sie muss vielmehr institutionell umgesetzt werden. 
 
Wir brauchen eine EU-weite "Föderalismusreform", die nicht nur sündteure Doppelgleisigkeiten ausmerzt, sondern auch dem Bedürfnis nach mehr Basisdemokratie und wirtschaftspolitischer Flexibilität Rechnung trägt. 
 
Die Kompetenzen der EU, Nationalstaaten, Regionen und Gemeinden müssen klar definiert werden und das Prinzip der Subsidiarität endlich EU-weit umgesetzt werden. Eine EU-weite Anwendung des erfolgreichen schweizerischen Föderalismus-Modells würde in Deutschland und Österreich zu einer leichten Aufwertung der Bundesländer gegenüber dem Bund und der EU führen. Zudem erhielten die Gemeinden deutlich mehr Kompetenzen. In Zentralstaaten, wie Frankreich, Polen, Rumänien, Tschechien, Ungarn oder Griechenland, wären noch viel weitreichendere institutionelle Veränderungen notwendig. Diese sind aber unabdingbar, um den bestehenden zentralistischen und nationalistischen Filz zu durchbrechen. 
 
Die Aufwertung regionaler und lokaler Institutionen sollte Europa nicht nur demokratischer, bürgernaher und wirtschaftspolitisch flexibler machen, sondern vor allem auch dabei helfen nationalistische Vorurteile zu überwinden. 
 
Sobald sich politische Entscheidungen verstärkt von den nationalen Hauptstädten in die Regionen und Gemeinden verlagern, wird sich auch das Interesse der Bevölkerung an der lokalen und regionalen Politik intensivieren und die regionale und lokale Identität der Menschen stärken. Die Regionen können ihre ethnische, kulturelle und konfessionelle Vielfalt besser repräsentieren als die Nationalstaaten und können dadurch einerseits ihre Minderheiten besser integrieren, andererseits interregionale Brücken effektiver aufbauen. Die Schweiz macht das heute schon vor. 
 
Der Populismus der Nationalisten, die einerseits den angeblichen EU-Zentralismus anprangern, andererseits ihren eigenen nationalstaatlichen Zentralismus als gottgegeben darstellen, muss endlich als Doppelmoral entlarvt werden. Es ist Zeit den Spiess umzudrehen und den nationalstaatlichen Zentralismus stärker in den europapolitischen Vordergrund zu rücken. 
 
Die erfolgreiche Fortsetzung des europäischen Integrationsprozesses bedingt zwar zum jetzigen Zeitpunkt durchaus die Abgabe einiger EU-Kompetenzen, muss aber mit einer gleichzeitigen Dezentralisierung der Nationalstaaten sowie der Abschaffung von Doppelgleisigkeiten verknüpft werden. 
 
Wir Europaer müssen uns über zwei Dinge im Klaren sein. Um Frieden, Freiheit und Wohlstand langfristig zu sichern, brauchen wir ein vereintes föderales Europa. Der Weg zu einem demokratisch legitimierten und konkurrenzfähigen vereinten Europa führt aber nicht über die bestehenden Nationalstaaten sondern über seine Regionen

Mittwoch, 21. Mai 2014

Föderalismusreform in Österreich

© Peter Josika
Der Reformstau in Österreich ist das Produkt einer unklaren Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern sowie einer damit verbundenen Doppelgleisigkeit. Ja, eine Verfassungsreform, um die Kompetenzen klarer zu definieren, ist längst überfällig. Die Lösung ist aber keineswegs mehr Zentralismus, sondern vielmehr eine Ausweitung des Föderalismus. Wir brauchen mehr Basisdemokratie sowie eine Stärkung der Länder und Gemeinden, um eine bedürfnisgerechtere Politik auf lokaler und regionaler Ebene zu ermöglichen, wie sie in der Schweiz bereits höchst erfolgreich praktiziert wird. Österreich sollte als Vorbild für eine zukünftige konkurrenzfähige EU der Regionen auftreten und nicht dem inflexiblem nicht mehr zeitgemäßen Zentralismus vieler EU-Krisenländer, wie zB Frankreich, folgen

Sonntag, 16. März 2014

Krim Referendum ungültig

© Peter Josika 16.3.2014
Krim-Referendum: Obwohl ich Selbsbestimmung zu den wichtigsten Grundrechten einer demokratischen Weltordnung zähle, ist das heutige Referendum der Region Krim eindeutig ungültig.
(1) Der Bevölkerung wurde die dritte Option einer für alle Volksgruppen inklusiven unabhängigen Krim vorenthalten. Zur Wahl standen nur zwei zentralistische Nationalstaaten.
(2) Internationale Beobachter erhielten keinen Zugang, um das Referendum zu überwachen.
(3) Der Ausgang des Referendums- 93% für eine Angliederung an Russland- beweisst, dass grosse Teile der Bevölkerung nicht am Referendum teilnahmen. Nur etwa 58% der Einwohner der Krim sind Russen. 24% Ukrainer und 11% Krimtartaren werden definitiv nicht mehrheitlich für Russland gestimmt haben.

Montag, 10. März 2014

Lasst die Krim doch einfach Krim sein

© Peter Josika

Lasst die Krim doch einfach Krim sein

Am 16 März soll die Bevölkerung der Krim über ihre politische Zukunft abstimmen. Zur Auswahl stehen zwei nationalstaatliche Modelle. Einerseits der Verbleib bei der zwar pro-europäischen aber betont nationalistischen Ukraine, die gerade den Staatsapparat zentralisierte, die regionalen Autonomien abschaffte und die Minderheitenrechte beschnitt. Andererseits der Anschluss an ein imperialistisches Russland, das unter der Führung Putins von einer Föderation zu einem de facto Zentralstaat mutierte sowie wieder damit begann seine von Menschenrechtsverletzungen, Unterwerfung und Russifizierung geprägte Geschichte zu glorifizieren.

Die Krim ist ein Schmelztiegel verschiedener Sprachgruppen, Ethnien und Konfessionen. Neben Russen, Ukrainern, Weissrussen, Armeniern, Krimdeutschen, Roma und Bulgaren leben dort vor allem auch muslimische Krimtartaren, die bis ins Neunzehnte Jahrhundert die Bevölkerungsmehrheit stellten. Kriege, Vertreibungen, Umsiedlungen, Massenenteignungen, Kollektivierungen und staatliche Assimilierung führten zuerst zu einer Russifizierung und seit 1990 zu einer teilweisen Ukrainisierung des Landes. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist die heutige Bevölkerungsstruktur von etwa 58% Russen, 24% Ukrainern, 12% Tartaren und 6% Sonstigen.

Russland begründet sein Eingreifen auf der Krim mit der Verteidigung des Selbstbestimmungsrechtes der russischen Bevölkerungsmehrheit. Der Westen pocht wiederum auf die angebliche Unantastbarkeit der territorialen Integrität der Ukraine. In Wahrheit geht es beiden Seiten nur um eines: Politischen und wirtschaftlichen Einfluss.

Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt uns, dass Russland und der Westen, entsprechend ihrer jeweiligen Interessenslage, abwechselnd mal die Selbstbestimmung und dann wieder den "Schutz territorialer Integrität" in den politischen Vordergrund stellten. Während der Westen die Unabhängigkeit des Kosovo im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes der albanischen Bevölkerungsmehrheit anerkennt, blockiert Russland seit Jahren seinen Beitritt in die UNO und anderen internationalen Organisationen mit dem Verweis auf die territoriale Integrität Serbiens. Russland unterdrückt zudem bereits seit Jahrzehnten Unabhängigkeits-, Autonomie- und Dezentralisierungsbestrebungen im eigenen Land und beruft sich dabei auf die angebliche Gefährdung seiner territorialen Integrität.

Die Staaten Europas bezeichnen sich zwar selbst immer wieder gerne als vorbildliche Demokratien, viele von ihnen bekämpfen aber auch mit allen Mitteln Dezentralisierungs-, Selbstbestimmungs- und Autonomiebestrebungen innerhalb ihrer Hoheitsgebiete. Katalonien, Baskenland, Schottland, Wales, Nordirland, Bretagne, Elsass, Südtirol, Friaul, Dalmatien, Istrien, Vojvodina, Banat, Siebenbürgen, Szeklerland, Schlesien und Mähren seien hier als Beispiele genannt. Für alle diese Regionen gilt die Unumstösslichkeit der "territorialen Integrität" als oberstes Gebot. Der Wille der betroffenen Bevölkerung ist zweitrangig.

Nach dem Ersten Weltkrieg stand die Politik des Westens noch ganz im Zeichen der Idee der nationalen Selbstbestimmung. Die Habsburgmonarchie und andere Teile Mittelosteuropas wurden in ethnische Nationalstaaten aufgeteilt. Selbstbestimmung wurde aber nur selektiv und ohne Beteiligung der betroffenen Bevölkerung umgesetzt. So zwang man viele anders- oder gemischtsprachige Gebiete gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit in fremde Nationalstaaten. Ähnlich wie in der heutigen Ukraine setzten diese neu entstandenen oder geografisch erweiterten Nationalstaaten wiederum alles daran regionale Autonomien zu unterbinden und ihre grossen Minderheiten auszugrenzen statt zu integrieren. Das Ergebnis dieser Politik waren Konflikte zwischen und innerhalb dieser Staaten sowie der Aufstieg extremistischer Bewegungen. Hitler, Stalin, der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg waren eine direkte Folge verfehlter zentralistisch-nationalstaatlicher Politik wie sie heute in der Ukraine, in Russland sowie in grossen Teilen Europas wieder oder immer noch betrieben wird.

Für die Krim und ihre Menschen ist daher weder ein Anschluss an Russland noch der Verbleib in der heutigen zentralistisch-nationalistischen Ukraine ein annehmbarer Weg. Beide Optionen untergraben die regionale Autonomie, bedeuten weniger Demokratie und Selbstverwaltung und führen zu einer Ausgrenzung grosser Teile der Bevölkerung. Stattdessen sollten die USA, EU und Russland von ihren historischen Fehlern lernen und es der Krim ermöglichen ihren eigenen integrativen Weg zu beschreiten. Nur eine möglichst unabhängige föderalistisch und damit basisdemokratisch strukturierte Krim, frei von nationalistischer und zentralistischer Bevormundung, kann alle Volks- und Religionsgruppen gleichberechtigt in die staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen einbinden. Nur so kann zudem eine gemeinsame Identität aufgebaut werden, die den Bewohnern unabhängig von ihrer Muttersprache und Religion eine langfristige gemeinsame Perspektive gibt. Die Lösung für die Krim heisst Krim, nicht Russland oder Ukraine.

Let Crimea be Crimean

© Peter Josika
Let Crimea be Crimean

The Russophile regional government of Crimea called a referendum on the future status of the region for March 16. The people will only have two choices- to remain Ukrainian or become part of Russia. The option of Crimean independence, neither supported by the West nor by Russia, will not be given.

The new pro-European, but increasingly nationalist Ukrainian government, has centralized power, abolished regional autonomies and weakened minority rights. In its current form it has nothing to offer to the majority non-Ukrainian population of Crimea.

Russia, on the other hand, did the same over the last few years. Under Putin it also started glorifying its questionable history of subjugation and Russification. Becoming part of Russia would make the non-Russians of Crimea, constituting more than 40% of the population, to second class citizens.

The indigenous inhabitants of Crimea, the Tartars, are a prime example of a people that became a minority on their own land due to Russian centralism and nationalism. After Ukrainian independence in 1990 the Russification process turned into a more modest form of Ukrainization. In the nineteenth century still the majority, Crimean Tartars only make up 12% of the population today. 58% are Russians, 24% Ukrainians and the remaining 6% mainly Belorussians, Crimean Germans, Bulgarians and Armenians. The modern day Crimea is therefore a melting pot of languages, ethnicities, cultures and religions. Logically it does not fit into the structures of nation states like Russia or Ukraine.

Only a Swiss style federalist set up with strong regional and local governments can give all peoples of Crimea an identity and protect the regions unique diversity. The US and the EU should learn from past mistakes and support the path to Crimean independence. After World War I the Western powers forced various regions with local German and Hungarian majorities into newly created or expanded nation states like Czechoslovakia, Poland, Romania or Yugoslavia causing unnecessary internal conflicts and unsolvable disputes between these states and their neighbors. The rise of extremism, the Second World War and the Cold War were a logical consequence. If the West wants to avoid for Crimea to become another Sudetenland, Alsace-Lorraine, Israel/Palestine or Northern Ireland, it should help create a strong federalist and non-ethnic Crimean state like Switzerland that is inclusive rather than exclusive to its diverse population. A new independent Crimea would also function as a buffer zone between the Ukraine and Russia. It would become a place were Ukrainians and Russians meet rather than fight each other.

Montag, 17. Februar 2014

Ein Weckruf aus der Schweiz

Ein Weckruf aus der Schweiz- Gerade die durch die Zuwanderungsabstimmung in Verruf geratene Schweiz könnte als Vorbild für Europa dienen
17.02.2014
von Peter Josika  (Die Presse)

 

Die Abstimmung über die Massenzuwanderung vom 9.Februar wird sicher nicht als Ruhmesblatt direkter Demokratie und schweizerischer Weltoffenheit in die Geschichte eingehen. Sie darf aber ebenso nicht lapidar als einseitiger Versuch eidgenössischer Abschottung vom Rest Europas interpretiert werden.

Der Ruf nach Begrenzung der Einwanderung ist kein alpenländisches Kuriosum, sondern vielmehr ein Weckruf für ganz Europa und seine Institutionen. Auch in anderen europäischen Staaten hätte die Bevölkerung in einer Abstimmung über eine Begrenzung der Zuwanderung wohl ähnlich entschieden.
Die Ängste und Vorurteile vieler Menschen werden durch eine neue populistische Rechte angeheizt, die heute in ganz Europa eine Renaissance erlebt. Bei der bevorstehenden EU-Wahl ist daher mit einem gewaltigen Rechtsruck zu rechnen.
Nationalistische Kräfte finden mit ihren simplistischen Thesen von der EU als undemokratischem Moloch und den Nationalstaaten als einzig „legitime“ demokratische Institutionen zunehmend Gehör. Sie profitieren von Klischees und Vorurteilen, die den Europäern über Generationen oktroyiert wurden und sich in Zeiten der Globalisierung und großer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umwälzungen entladen.
 
Folgen des Chauvinismus
Doch von demokratisch legitimierten Nationalstaaten kann keine Rede sein. In Wahrheit sind die heutigen europäischen Nationalstaaten das Produkt von Kriegen, Eroberungen und aufgezwungenen Verträgen ohne Mitspracherecht der betroffenen Bevölkerung.
Hinter der Entstehung der Nationalstaaten im 19. und 20.Jahrhundert standen keine Volksbewegungen, sondern meist kleine, elitäre gesellschaftliche Kreise. Ihnen gelang es, die gemischtsprachigen und miteinander verwurzelten Regionen Europas schrittweise in neu gegründete oder geografisch erweiterte Nationalstaaten hineinzupferchen. Diese implementierten wiederum zentralistische Strukturen, um regionale und lokale Selbstverwaltung, sprachliche Vielfalt und Selbstbestimmung zu unterbinden.
Die heutigen Nationalstaaten sind daher keineswegs von der breiten Öffentlichkeit ersehnte oder legitimierte Institutionen. Sie wurden der heterogenen Bevölkerung vielmehr von einer machthungrigen und ideologisierten Elite aufgezwungen. Dadurch entstand eine zentralistisch-nationalstaatliche Kultur, die bis heute von Chauvinismus und Ausgrenzung geprägt ist. Sämtliche Kriege seit der Französischen Revolution hatten nationalistische Wurzeln. Millionen Tote und Vertriebene sowie zerstörte gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen sind die Folge.
Nach dem Schrecken zweier Weltkriege begannen einige weitsichtige europäische Politiker mit dem Aufbau gemeinsamer politischer und wirtschaftlicher Institutionen auf europäischer Ebene. Diese Entwicklung ist aber ins Stocken geraten.
Da Europa immer noch nationalstaatlich geteilt ist, konnte der ideologische Nationalismus nicht überwunden werden. Dieser verhinderte bis heute eine wirklich vertiefte politische Integration Europas. Eine längst überfällige gemeinsame Wirtschafts-, Außen-, Verteidigungs- und Einwanderungspolitik sowie einheitliche Richtlinien in den Bereichen Demokratie, Minderheitenschutz und bei der Aufarbeitung historischer Menschenrechtsverletzungen konnten nicht umgesetzt werden.
Die Nationalstaaten halten in jenen Bereichen an ihren Kompetenzen fest, in denen europaweite Regelungen am dringendsten notwendig wären. Stattdessen entwickelte sich die EU eher zur Regulierungsbehörde, in der Bürokraten europaweite Normen und Regeln definieren, die wir oft gar nicht brauchen.
 
EU hat wenig Spielraum
Die aktuelle EU ist eben eine Schöpfung der europäischen Nationalstaaten und damit ein Spiegelbild einer bürokratisierten nationalstaatlichen Ordnung. Sie verfügt über wenig politischen Spielraum, weil die Nationalstaaten den Aufbau einer demokratisch legitimierten und politisch relevanten Union bisher unterbunden haben.
Eine Folge der zentralistischen Strukturen ist auch das extreme Demokratiedefizit in vielen europäischen Staaten. Alle Länder Europas bezeichnen sich zwar gern als vorbildliche Demokratien, doch meistens beschränkt sich die politische Mitbestimmung der Bevölkerung auf die Wahl nationaler Parteien mit abstrakten politischen Programmen und geringfügiger regionaler und lokaler Relevanz.
Die regionale und kommunale Politik führt nur ein Schattendasein neben dem mächtigen Nationalstaat. Gemeinden und Regionen verfügen über unzureichende Kompetenzen, um wirtschafts- oder gesellschaftspolitische Impulse setzen sowie auf lokale und regionale Spezifika eingehen zu können. Relevante politische Entscheidungen werden auf nationalstaatlicher Ebene getroffen und beziehen sich auf den ganzen Staat, auch wenn die regionalen und lokalen Bedürfnisse meist sehr unterschiedlich sind.
 
Gelebter Föderalismus
Gerade das politische System der durch die Zuwanderungsabstimmung so in Verruf geratenen Schweiz könnte als Vorbild für Europa und die Nationalstaaten dienen. In der Schweiz wird Föderalismus bereits sehr erfolgreich gelebt. Die Wirtschaft profitiert von den weitgehenden Kompetenzen der lokalen und regionalen Institutionen sowie der damit verbundenen institutionellen Flexibilität.
Die Identität der Menschen ist lokal und regional ausgeprägt. Die „globale“ Schweizer Identität ist weder von der Sprache noch von der Religion oder dem Stand abhängig. Dadurch können ethnische und soziale Konflikte weitgehend verhindert werden. Sprachliche Vielfalt hat sich wie in keinem anderen Land erhalten.
Das einst zentralistische Österreich profitierte von der weitgehenden Dezentralisierung in den letzten Jahrzehnten und stieg so zu einem der wohlhabendsten Länder Europas auf. Auch Deutschland steht dank seiner nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebauten föderalen Strukturen gut da. Beide Länder würden jedoch von einer Stärkung der Gemeindeautonomie und einer Dezentralisierung des Steuerrechts noch mehr profitieren.
 
Großer Reformbedarf
Zentralistische Staaten – wie Frankreich, Spanien, Italien, Polen, Tschechien oder Ungarn – leiden an ihrem rigiden inflexiblen Zentralismus. Mit Ausnahme weniger autonomer Gebiete verfügt die regionale und lokale Politik in diesen Ländern über keine nennenswerten Mittel, um bedürfnisgerechte Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik betreiben zu können. Es besteht daher großer Reformbedarf.
Statt sich über den Schweizer Volksentscheid aufzuregen, wäre es der EU und ihren Politikern daher anzuraten, die veralteten nationalstaatlichen Institutionen und zentralistischen Strukturen ihrer Mitgliedstaaten anzuprangern und den Fokus auf einen europaweiten Dezentralisierungsprozess zu setzen. Nur so kann Europa langfristig den Frieden sichern, basisdemokratische Verhältnisse aufbauen und zu einem global wettbewerbsfähigen Wirtschaftsraum werden.
 
http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/1563431/Weckruf-der-Eidgenossen_Stoppt-den-Zentralismus