Freitag, 28. November 2014

EU zwischen Föderation und Zerfall: Die Zeit ist reif Europa neu zu definieren

© Peter Jósika

EU zwischen Föderation und Zerfall: Die Zeit ist reif Europa neu zu definieren

Seit seinem Amtsantritt verlangt der britische Premier David Cameron eine umfangreiche EU-Reform. Obwohl Großbritannien bereits von verschiedenen Ausnahmeregelungen profitiert, fordert er eine deutlich abgespeckte EU. Cameron will zwar den gemeinsamen Markt erhalten, aber politische und regulatorische Kompetenzen sowie die Frage der Personenfreizügigkeit weitgehend an die Nationalstaaten zurückgeben. Er weiß einerseits, dass sein Land den europäischen Binnenmarkt braucht, muss aber eine durch die Medien und die UK Independence Party angeheizte EU-skeptische Stimmung bedienen.

Neben Großbritannien wird auch die Schweiz heute als ein Land mit Sonderwünschen wahrgenommen. Zwar ist die Eidgenossenschaft durch eine Vielzahl bilateraler Verträge politisch und wirtschaftlich eng mit der EU verbunden. Eine EU-Mitgliedschaft fand aber bisher aus demokratie- und wirtschaftspolitischen Gründen unzureichende Unterstützung. Im Februar sprach sich zudem eine knappe Mehrheit der Schweizer, entgegen der Empfehlungen des Bundes-, National- und Ständerates, für eine Kontingentierung der Einwanderung aus der EU aus. Nun steht die Schweizer Politik vor dem schwierigen Balanceakt den Volkswillen in Verhandlungen mit der EU umzusetzen ohne die bestehenden für die einheimische Wirtschaft lebenswichtigen bilateralen Verträge zu gefährden. 

Die EU-Kommission und führende Politiker der EU-Kernstaaten stehen den britischen und schweizerischen Sonderwünschen kritisch gegenüber. Sie beharren darauf, dass die Personenfreizügigkeit und der erreichte Grad der europäischen Integration unantastbar sind. Dementsprechend verlangen viele, dass die EU beide Staaten kompromisslos vor die Wahl stellt: Entweder ihr seid dabei und akzeptiert die EU wie sie heute ist, oder ihr bleibt draußen mit allen Konsequenzen. So logisch diese Einschätzung für viele auch klingen mag, wir müssen uns vor radikalen Lösungsansätzen in acht nehmen. 

In Wahrheit geht es nämlich schon lange nicht mehr nur darum wer "drinnen" oder "draußen" ist. Die EU, der EWR, Schengen/Dublin und die Eurozone sind heute bereits vier in vielerlei Hinsicht voneinader unabhängige pan-europäische Institutionen, denen unterschiedliche Staaten angehören. Eine simplistische Aufteilung Europas in ein pro- und anti-Europa Lager ist daher schon längst überholt. Die Realität ist um einiges komplexer und vielschichtiger. 

Einserseits gibt es in Deutschland und Frankreich wachsende Kritik an EU-Regularien und der Personenfreizügigkeit. Andererseits wird auf regionaler Ebene, sowohl in den EU-Kernländern als auch in den als EU-skeptisch wahrgenommenen Staaten, der Ruf nach mehr Europa immer lauter. 

So regt sich in Schottland, Wales, Cornwall und Yorkshire zunehmend Widerstand gegen die antieuropäische Politik Londons. Viele fühlen sich durch den britischen Zentralismus, der sich traditionell an den Bedürfnissen Südostenglands orientiert, nicht mehr ausreichend vertreten. Für sie steht die Vision eines vereinten föderalen Europas für weniger London und mehr lokale Eigenverantwortung.

Ähnlich ist die Situation in vielen anderen Regionen Europas. Heute brodelt es in Katalonien, dem Baskenland, Galicien, der Bretagne, Savoyen, dem Elsass, Südtirol, Venetien, Friaul, Triest, Istrien, Dalmatien, Mähren, Schlesien, Siebenbürgen, dem Banat usw. In diesen Gebieten wollen die Menschen mehr Selbstbestimmung und sehen daher in einem vereinten föderalen Europa die große Chance sich von den bestehenden zentralistisch-nationalstaatlichen Zwängen zu befreien. Ihr Streben nach Autonomie oder gar Sezession ist meist in einem pro-europäischen Kontext zu verstehen. 

Selbst in der föderalen Schweiz ist auf regionaler Ebene die Unzufriedenheit über den Volksentscheid für eine Kontingentierung der Einwanderung aus den EU-Staaten groß. In zwei der wichtigsten Wirtschaftsstandorten des Landes, Basel und Genf, entschied sich eine klare Mehrheit für die Beibehaltung der Personenfreizügigkeit mit der EU. Dort herrscht nun grosser Unmut über ein de facto "Diktat aus der Innerschweiz". Basel und Genf sehen ihre Konkurrenzfähigkeit ernsthaft gefährdet und fragen sich zunehmend ob gesamtschweizerische Abstimmungen zu solchen Themen zielführend sind. 

Für Europa und seine Staaten stellt sich daher die grundsätzliche Frage wie man in unserer zunehmend globalisierten aber auch demokratisierten Welt mit den unterschiedlichen regionalen Bedürfnissen umgehen soll und ob unsere heutigen politischen Institutionen überhaupt noch zeitgemäß sind. 

Eines ist klar: Wir können es uns nicht leisten das Friedensprojekt Europa aufzugeben. Nicht nur unsere Vergangenheit, sondern auch die aktuellen Krisen am Rande unseres Kontinents, wo Regionen von einer Tragödie in die andere schlittern, verbieten uns das. Andererseits müssen wir uns davor hüten über die Köpfe der Menschen hinweg einen Einheitsbrei zu schaffen, sowohl auf EU Ebene als auch innerhalb der bestehenden Nationalstaaten. 

Daher ist ein vielschichtig integriertes Europa der Regionen wohl die einzig zielführende Lösung. In einem wahrlich demokratischen und bedürfnisgerecht aufgebauen Europa der Bürger darf weder die EU den Briten und Schweizern starre Strukturen aufoktroyieren, noch dürfen die Menschen in Schottland, Wales, Yorkshire, Cornwall, Basel, Genf, Südtirol oder dem Elsass vom Willen der Südostengländer, Innerschweizer, Römer oder Pariser abhängig gemacht werden. 

Im Europa von Morgen sollten daher   Gemeinden und Regionen, als kleinste und bürgernaheste politische Einheiten, eine viel bedeutendere Rolle spielen als die bestehenden Nationalstaaten. Die EU müsste dahingehend reformiert werden, dass sie einerseits flexiblere Beitritts- und Austrittskriterien für ihre Vertragswerke und Institutionen ermöglicht, und andererseits die Kompetenzen der Gemeinden und Regionen im Sinne des im Vertrag von Lissabon definierten Subsidiaritätsprinzips europaweit 
aufwertet. 

Europa ist so komplex geworden, dass es sich neu erfinden muss. Das erfordert grundlegende Reformen und vor allem eine Abkehr von den nicht mehr zeitgemäßen nationalstaatlichen Strukturen. 

Peter Jósika ist ein in der Schweiz lebender österreichischer Historiker und Politikwissenschaftler. Er ist Autor des Buches "Ein Europa der Regionen - Was die Schweiz kann, kann auch Europa ", und kann über die Webseite europaderregionen.com kontaktiert werden.

 

 

  

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